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Aitmatow: Der Tag zieht den Jahrhundertweg

Beim Namen "Aitmatow" fällt sicherlich vielen Lesern "Djamila" ein - eines der Bücher, das ich trotz Pflichtlektüre in der Schule gern gelesen habe. Und dieses Nebeneinander vom modernen Leben und seinen Alltäglichkeiten und einer uns sehr fremden asiatischen Welt finden wir auch in dem Roman, den ich heute vorstellen möchte.

In der kasachischen Steppe, in der Nähe von Kumbel, lebt Edige Shangeldin, genannt Schneesturm-Edige. Er ist seit vielen Jahrzehnten Bahnwärter auf der Station Boranly in Sary-Ösek, dem Zentralgebiet der gelben Steppen. Ediges Freund Kasangap ist gestorben, und so machen sich die Menschen aus Schneesturm-Boranly auf dem Weg zur Beerdigung auf dem alten legendenumwobenen Friedhof Ana-Bejit. Dieser Tag des Marsches durch die kasachische Steppe ist für Edige mehr als nur ein sehr langer Kamelritt. Er ist für ihn Rückbesinnung an die vielen gemeinsamen Jahre mit dem Freund, an seine eigene Jugend, an die tiefe Verbundenheit mit der Steppe und ihren Legenden.

Im Mittelpunkt dieser Mythen steht eine alte kasachische Legende, die von einem unbewußten Muttermord erzählt. Ein in den Stammesfehden gefangener junger Mann verliert durch grausame Torturen sein Gedächtnis. Er wurde ein Mankurt, ein willenloser Sklave. Die Mutter versuchte vergeblich, ihm Gedächtnis und Freiheitswillen zurückzugeben. Ana-Bejit ist der Friedhof, wo die legendäre Mutter begraben ist.

Doch in der Gegenwart ist dieser Friedhof für die Kasachen unzugänglich. Sary-Ösek ist zum Sperrgebiet erklärt worden. Aitmatow spinnt in seine Geschichte eine andere Science-Fiction-Erzählung ein. Ein paritätisches sowjetisch-amerikanisches Raumfahrtunternehmen hat zur Kontaktaufnahme mit einer fremden, höheren Zivilisation geführt. Diese Fiktion bringt der Autor mit der Frage "Ist die heutige Welt für solch eine Kontaktaufnahme bereit?" in enge Verbindung zur kasachischen Legende vom Mankurt. Und auch für Edige stellt sich die Frage "Sehe ich wie ein Mankurt zu, wie dieser historische Friedhof dem Erdboden gleichgemacht wird oder kämpfe ich?". Und da alles dies an dem einen Tag der Beerdigung geschieht und gedacht wird, währt dieser Tag länger als ein Zeitalter, zieht er den Jahrhundertweg.

Sicherlich ist zu bedenken, daß mit der "heutigen Welt" die Welt des Autors von 1980 gemeint ist, also eine Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Und schließlich hat auch ein großer Autor, der Tschingis Aitmatow zweifelsfrei ist, in und mit seinem System gelebt. Ich denke aber, daß das Anliegen des Romans, das Phantastische dieser Welt zu zeigen und gleichzeitig ihre Zerrissenheit in ökonomischen, rassischen und politischen Widersprüchen, heute gilt genau wie vor 15 Jahren. Auch in unserer Gegenwart der neunziger Jahre mit allen zwischenzeitlichen Veränderungen kann es nicht Sinn des Menschen sein, als Mankurt zu leben. Und wem diese Anliegen zu hoch gestellt sind, dem möchte ich die sehr poetische Sprache besonders bei den Naturbeschreibungen ans Herz legen.

Ein Buch, das ich gern und mit gutem Gewissen empfehlen kann.

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Copyright: Susanne Siems
Letzte Änderung: Juni 2006